Eine kleine unscheinbare Katze bewohnt in luftiger Höhe eine Regenrinne. Jemand hat ihr dort einen Platz zugewiesen. Mit der Zeit ist die Farbe verblichen. Sie hat der Sonne widerstanden, dem Regen. Vielleicht auch manch einem Menschen, der ihr ein neues Zuhause anbieten wollte. Alles hinterlässt Spuren, nichts währt ewig. Schicksal führt in Unkenntlichkeit. Bis dahin wird sie fragen: „Was will ich?“
Es haben sich einige Personen zusammengetan, um medienwirksam der kleinen Katze und ihren Freunden zu Leibe zu rücken. „Klebt Euch nicht zu!“ lautete das Motto mit dem man dem urbanen Phänomen des Stickerns Herr werden will. Schließlich geht es in der öffentlichen Sprechweise um allerhand: Eigentumsverletzung, Sachbeschädigung, Gefährdung der Verkehrsordnung und besonders um Verschmutzung. Eine Kampagne, die offensichtlich noch nicht den gewünschten Erfolg gezeigt hat. Ein Jahr später hat sich eine andere Gruppe in Zusammenarbeit mit einer auflagenstarken Zeitung dem Phänomen Aufkleber gewidmet. Letztlich geht es vermutlich darum einem breiten Publikum diese vermeintlichen Schätze und Schandflecken zu benennen und sie als eben solche anhand der Kategorie der Wertigkeit zu markieren. Folgerichtig gehört das Phänomen der Aufkleber, kaum überraschend, eher zu den städtischen Schandflecken. Und zwar auch und gerade wenn es sich um künstlerisch gestaltete Aufkleber handelt. Vom Kunstsachverstand her betrachtet ergäbe sich irgendwie das Bild, dass man es vermeintlich mit Botschaften, Codes zu tun habe, die man entweder nicht verstehen könne, oder die gar keinen Sinn haben, weil sie sinnfrei seien. Ein subkulturelles Phänomen für Eingeweihte, das den Großteil der Bevölkerung ausschließe und eine rätselhafte Welt bleibe. Zu tolerieren, „wenn es nicht mit dieser Verschmutzung einherginge, die unerfreulich ist“ und deren Beseitigung teuer ist, so dass man schließlich die Frage (eine rhetorische Frage) kaum zu stellen wage, „ob man mit dem erforderlichen Geld fürs Entfernen nicht doch etwas Sinnvolleres anfangen kann.“ Soweit so gut, gerecht wird man dem Phänomen der Aufkleber so nicht. Vielleicht will man es auch gar nicht. Ohne Sinn ist der Aufkleber jedenfalls nie, ganz gleich welcher Art er ist.
Die Klebefläche
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber vielleicht gerade deshalb leicht vergessen: Das Bemerkenswerte am Aufkleber ist, dass er aus sich selbst heraus, seiner Funktionsweise einen Sinn erzeugt, die ihm den nicht unaggressiven Grundzug der Besetzung verleiht. Man muss ihn von seiner Rückseite her verstehen. Er klebt, weil auf seiner Rückseite ein Klebstoff angebracht ist, der es ihm ermöglicht als eine Fläche, deren Oberfläche dann gewöhnlich etwas Zeichenhaftes trägt (eine Botschaft, ein Logo etc.) eine andere Fläche zu besetzen und für sich zu instrumentalisieren. Die folgenreichste Produktinnovation des Aufklebers, dieser noch recht jungen Erfindung, 1935 patentiert Richard Stanton Avery die ersten selbstklebenden, aber noch sehr leicht zu entfernenden Etiketten, dürfte eben in der Verbesserung der Klebeeigenschaften gelegen haben. Sie erst hat dem Aufkleber die Attribute gegeben, die ihn bis heute unschätzbar wertvoll machen, nämlich extrem anhaftbar und von hoher Lebensdauer zu sein. Sie erst hat den Aufkleber zu dem urbanen Massenphänomen werden lassen, wie man es heute kennt. Nebenbei, wollte man den Aufklebern im städtischen Erscheinungsbild tatsächlich Herr werden, könnte man ebenso daran denken, die Hafteigenschaften des Klebers zu verringern, anstatt der Individuen habhaft werden zu wollen, die nichts anderes als die Intention des Aufklebers selbst verwirklichen: „Kleb mich!“
Die Oberfläche
Die klebende Rückfläche trägt wiederum die nach außen sichtbare Oberfläche. Hier findet man sie, die Botschaften. Und in aller Regel sind das banale Werbebotschaften für beworbene Produkte, Marken, Dienstleistungen etc. Es gehört zur Erfolgsgeschichte des Werbemediums Aufkleber still und heimlich, aber gründlich, weil endlos wiederholbar, die städtischen Freiflächen besetzt und so aus der Stadt ein Zeichensystem allgegenwärtiger kommerzieller Botschaften gemacht zu haben, die um Präsenz und Aufmerksamkeit miteinander konkurrieren. In Zeiten großformatiger, nach allen Künsten der Werbepsychologie durchdesignter Werbeflächen, von Leuchtreklame und bildgewaltigen Kampagnen in den Print- und Bildmedien ist man vielleicht geneigt, den Aufkleber als ein antiquiertes und daher überflüssiges Werbemedium anzusehen, allenfalls das des städtischen Klein- und Kleinstunternehmers (also der Schlüsseldienste, Yogastudios, Fahrradläden usw.) mit dem dieser in dieses Konkurrenzsystem eintritt. Das mag stimmen und die Entfernungspraxis der Städte bekäme den Beigeschmack, gerade diejenigen aus dem kommerziellen Zeichensystem ausschließen zu wollen, die sich die aufwendigeren und teureren Bewerbungsmedien nicht leisten können. Wahrscheinlich aber ist, dass der Aufkleber durch die neueren Bewerbungsmedien und –techniken keineswegs gefährdet ist. Sie ergänzen ihn, machen ihn aber nicht überflüssig. Denn der Aufkleber hat einen weiteren unschätzbaren Vorzug: Indem er eine körperliche Verbindung mit dem Konsumenten herstellt, durch seine Hände geht, verändert er im besten Fall den Konsumenten selbst. Aus einem passiven Konsumenten wird, wenn er den Aufkleber klebt, ein instrumentalisierter Agent der jeweiligen Werbeintention. Sei es der Aufkleber als das kleine Giveaway der Parteien im Straßenwahlkampf oder als die bunte Zugabe zu der neu gekauften Kleidung, auch hier gilt eben jenes „Kleb mich!“